In Zürich und im Tessin tauchen erste Sprayereien auf. Die Fabelwesen und Fantasiefiguren (teilweise in Farbe) werden wahlweise als Schmiererei, Vandalismus oder Kunst aufgenommen. Die Werke einer unbekannten Urheberschaft lösen heftige öffentliche Diskussionen in Form von Zeitungsartikeln, Leserbriefen und TV-Beiträgen aus. Daran änderten auch die später hinzukommenden Augen, Insekten und Frauenfiguren nichts.
«Die Schmierfinke sött me jetzt denn mal verwütsche und ganz tüchtig abchlöpfe.» Passantin im TV, 1977
«Ich finds schuurig guet, es isch schön. Es isch sone graui Wand und denn chunnt plötzlech rot und schwarz und violett.» Passant im TV, 1977
«Schlichtewäg e fertigi Schweinerei. Will wänn si inere Demokratie nur so no chönd uf die Art und Wiis ihre Wille kund tue isch das eigentlech bescheide.» Passant im TV, 1977
Auf einen Aufruf der LeserZeitung meldet sich der unbekannte ‘Wandzeichner von Zürich’ mit einem anonymen Schreiben bei der Redaktion und erklärt sein Wirken, nicht jedoch seine Werke.
«...denn von der Umgebung losgelöst, etwa auf Leinwand oder Plakaten angebracht, wären diese Figuren nur unverbindliche Vorschläge... Ich mache aber keine Vorschläge, ich realisiere unmittelbar, lege bloss, decke auf, setzte das Messer an usw., mit den mir möglichen künstlerischen und psychologischen Mitteln.» ‘Der Wandzeichner’ in der LeserZeitung, 1978
Dem Schreiben legt er einen Holzschnitt in zehnfacher Ausführung bei, dessen Verkaufserlös der LeserZeitung zu Gute kommen soll.
Die Sprayereien an Zürcher Wänden haben mittlerweile rund 100 Anzeigen wegen Sachbeschädigung ausgelöst und eine Gruppe erboster Privatpersonen hat ein Kopfgeld von 3000.– CHF ausgesetzt für Hinweise, die zur Verhaftung des Täters führen. Parallel dazu schreibt die Psychologiestudentin Margrit Etter die Studienarbeit »Spraybilder in Zürich«, die Galerie Gaby Arrigo zeigt als erste Kulturinstitution Fotografien der Werke und Erwin Bucher veröffentlicht den Song ‘De Sprayer vo Züri’.
Im Juni wird der Sprayer von Zürich auf seiner Tour von einem Aufseher ertappt. Wächter und Sprayer sind in Begleitung eines Hundes unterwegs, mit entsprechenden Folgen. Nach einem Gerangel zwischen Hunden und Männern flieht der Sprayer, verliert dabei jedoch seine Brille. Die Suche nach dieser am nächsten Tag beendet das Wirken als anonymer Künstler – Harald Naegeli wird am Tatort von der Polizei festgenommen.
Kurze Zeit später publiziert der Benteli Verlag den Fotoband «Mein revoltieren, mein Sprayen» mit Bildern von Andre Schmid und Texten von Harald Naegeli.
Dr. Willy Rotzler (Kunstkomissionspräsident der Stadt Zürich) schreibt ein Gutachten für den Stadtpräsidenten und schätzt die Arbeiten von Harald Naegeli als schützenswert ein. Dieser ändert seine Handschrift und sprayt statt Figuren nun Tags und Zahlen auf Zürcher Wände.
In Zürich gibt es Jugendunruhen, aber Harald Naegeli beteiligt sich nicht daran. Er nutzt die (wie er sie nennt) „freien“ Protesttage zum Sprayen, da zu dieser Zeit die Polizei mit den Jugendlichen beschäftigt war.
In derselben Zeit beginnt Harald Naegeli damit, seine Sprayaktionen auszuweiten. Er reist immer wieder nach Deutschland und dort nach Stuttgart, Berlin, Frankfurt, Köln und Düsseldorf. In dieser Zeit entsteht auch der Kölner Totentanz, der 1982 in einer Fotodokumentation ausgestellt wird. In Frankfurt wird zudem eine Publikation mit den Wandbildern des Sprayers herausgegeben.
Im Juni wird Harald Naegeli durch die 11. Strafkammer des Obergerichts des Kanton Zürichs wegen ‘wiederholter und fortgesetzter Sachbeschädigung’ zu neun Monaten Haft ohne Bewährung und Schadenersatzzahlungen von 200'000.– CHF verurteilt.
«Der Angeklagte hat es verstanden, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.» Zitat aus der Anklageschrift
Am 30. September wird Harald Naegeli von einem Zivilpolizisten ertappt und in ein Handgemenge verwickelt. Harald Naegeli kann sich der Verhaftung jedoch entziehen und flüchtet zu einem Bekannten nach Rom und später zu einem befreundeten Journalisten nach Deutschland.
Das Bundesgericht bestätigt das Obergerichtsurteil, die Zürcher Staatsanwaltschaft lanciert die internationale Fahndung nach dem ‘Sprayer von Zürich’. Gleichzeitig erfährt Harald Naegeli grosse Solidarität von deutschen Politikern und Kunstschaffenden – Willy Brandt, Joseph Beuys, Klaus Staeck, Sarah Kirsch und andere setzen sich für ihn ein. Joseph Beuys schreibt sogar einen Antrag an die Menschenrechtskommission in Strassburg, findet dort jedoch kein Gehör.
Harald Naegeli verbringt im Sommer einige Wochen bei seiner Familie in Norwegen. Auf der Rückreise im Zug wird er bei der Passkontrolle an der Deutsch-Dänischen Grenze entdeckt, identifiziert durch ein neues Computerfahndungssystem. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in Lübeck kann er zurück nach Düsseldorf, muss sich aber dort jede Woche bei der Polizei melden.
«Das ist vielleicht die erste Form von militanter Kunst.» Harald Naegeli über sein Schaffen in Deutschland.
Im April stellt sich Harald Naegeli und wird in Riehen von den Schweizer Behörden in Empfang genommen. Seine Rückkehr in die Schweiz und der damit verbundene Einzug ins Gefängnis wird zu einem regelrechten Happening.
Bis Ende August sitzt Harald Naegeli seine Gefängnisstrafe im Bezirksgefängnis Winterthur ab, danach kommt er in den offenen Vollzug in der Anstalt Wauwielermoos (LU). Aus dieser wird Harald Naegeli Ende Oktober entlassen, er kehrt der Schweiz aus politischen Gründen den Rücken zu und lässt sich in Düsseldorf nieder.
Ein Chemieunfall bei Sandoz in Basel löst rheinabwärts ein Massensterben aus, so verendete z.B. auf einem 400 km langen Abschnitt die gesamte Aalpopulation. Harald Naegeli sprayt den «Totentanz der Fische» entlang des Rheins und legt dabei die Strecke Bonn – Koblenz mit dem Fahrrad zurück.
Auch Venedig wird mit einem «Totentanz der Fische» beehrt, als Protest gegen die Wasserverschmutzung durch Kreuzfahrtschiffe.
Ab 1986 widmet sich Harald Naegeli vermehrt seinem zeichnerischen Schaffen. Ausstellungen im Kunstmuseum Düsseldorf, der Staatsgalerie Stuttgart und dem Kunsthaus Zürich machen die Tusch- und Partikelzeichnungen mit Urwolken, Landschaften und Tieren einem grösseren Publikum zugänglich.
Harald Naegeli reicht den ersten Antrag ein für den Totentanz im Grossmünster in Zürich – er möchte den Treppenaufgang des Besucherturms mit Totentanzmotiven besprayen. Nach langwierigen Verhandlungen darf er im November 2018 die ersten Figuren sprayen. Er muss auf einem speziell beschichteten Untergrund arbeiten, damit die Figuren nach vier Jahren wieder entfernt werden können. Weil Harald Naegeli die Grenzen der ihm zugewiesenen Perimetern nicht konsequent einhält wird das Projekt im Januar 2019 vom Regierungsrat gestoppt und bleibt unvollendet.
Das Graffito «Undine» (von 1978) am deutschen Seminar der Uni Zürich wird vom Kanton unter Denkmalschutz gestellt und restauriert.
Harald Naegeli beginnt damit, seine Freunde und Schüler regelmässig per Mail anzuschreiben. Er schickt ihnen Fotografien seiner Werke und ergänzt diese mit kurzen Texten oder Gedichten. Eine Auswahl dieser Mails und Bilder erscheint 2021 unter dem Titel «Wolkenpost» im Diogenes Verlag.
Das Zürcher Amt ‘Entsorgung & Recycling’ strengt gegen Harald Naegeli einen Prozess wegen Sachbeschädigung in mehreren Fällen an. Der Prozess endet ohne Urteil, der Richter rät den Parteien zu einer aussergerichtlichen Einigung. Harald Naegeli begleicht die geltend gemachte Schadensumme von 9000.– CHF daraufhin mit der Schenkung einer Zeichnung.
Auch in Düsseldorf steht Harald Naegeli vor Gericht, nachdem die ‘Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste’ und ein Immobilienbesitzer Klage einreichen wegen zwei Flamingos, die 2016 angebracht wurden. Harald Naegeli verzichtete auf die ihm angebotene aussergerichtliche Einigung (Akzeptieren des Strafbefehls und Zahlung von 600 Euro) und erstritt sich vor Gericht ein Urteil nach seinem Geschmack: Spende an ein Kinderhospiz und Übernahme der Reinigungskosten.
Die Schweiz geht in den Lockdown und Harald Naegeli in die Gassen Zürichs. Er erweitert den Totentanz um 50 Figuren, viele davon werden schnell wieder entfernt. Diese Aktion zieht verschiedene Klagen nach sich: Die Stiftung Kunsthaus Zürich stellt eine Strafanzeige, ebenso die Baudirektion des Kantons Zürich und die Stiftung Zentralbibliothek. Die Stadt Zürich reagiert auf ihre Weise, lässt die 6 Figuren auf städtischen Gebäuden unberührt und zeichnet Harald Naegeli im Juli mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich aus (Laudatio von Reto Hänny).
Anfang Jahr soll im Musée Visionnaire die Ausstellung «Harald Naegeli – der bekannte Unbekannte» eröffnet werden. Doch wegen einem erneuten Lockdown verzögert sich die Eröffnung. Die digitale Plattform sprayervonzürich.com wird in der Zwischenzeit veröffentlicht und lädt Fans und Flaneure ein, ihre Fotos von Naegelis Figuren mit der Community zu teilen.
Im Sommer gründet Harald Naegeli die Harald Naegeli Stiftung, welche zum Ziel hat, sein künstlerisches Werk aufzuarbeiten und zu verwalten sowie Tier- und Naturschutzprojekte zu unterstützen. Dies tut Harald Naegeli indem er Greenpeace Schweiz zum 50-jährigen Jubiläum 50 Originalzeichnungen schenkt. Die Werke werden zu Gunsten von Greenpeace versteigert. Am Zürcher Filmfestival feiert der Dok-Film von Nathalie David «Harald Naegeli – der Sprayer von Zürich» Premiere.
Das Museum Schnütgen in Köln widmet Naegeli eine Einzelausstellung und zeigt eine Dokumentation des «Kölner Totentanz» von 1980/81. Auf der Insel Ufnau auf dem Zürichsee tanzen im Sommer zwei neue Skelette, welche Harald Naegeli während der Pressekonferenz zu seiner neuen Ausstellung unbemerkt ans Beinhaus sprayt. Der «Zürcher Totentanz» erscheint als Bildband und das Musée Visionnaire stellt zum ersten Mal Graffiti von Harald Naegeli im Museum aus.